Die Geschichte von Campemoor | Flugzeugabsürze | Das Moor im Wandel der Zeit | Kindheit nach dem zweiten Weltkrieg |
Von Hermann Steinhake, Campemoor
Moor ist eine aus Pflanzen gewachsene Erdschicht, deren Entstehung sich über mehrere Jahrtausende erstreckt hat. So habe ich es schon vor über 50 Jahren in der Schule gelernt. Unser Lehrer wollte, dass wir über den Boden, auf dem wir lebten und auf dem unsere Eltern als landwirtschaftliche Siedler ihr Brot verdienten genau Bescheid wussten. Das Große Moor, wie es sich pauschal nennt, erstreckt sich zwischen den Dammer und Kalkrieser Bergen und hat seine Ausdehnung bis zum Dümmer See. Schon die Römer um Christi Geburt mieden diese Gegend wie die Pest, und trotzdem wurde sie ihnen am Fuße der Kalkrieser Berge zum Verhängnis. Der Dümmer erstreckte sich damals bis in unser Gebiet mit einem niedrigen Wasserstand. Hier wuchsen Wollgras, Moose und alle Pflanzen, die sich im Wasser wohlfühlten. Vor dieser Zeit mussten hier gewaltige Kiefernwälder gestanden haben, denn deren umgefallen Stämme und Wurzeln findet man auf dem abgetorften Boden in großer Menge. Sie wurden durch die Moorsäure konserviert und sind bis heute noch gut erhalten.
So sind mehrere Jahrtausende ins Land gegangen, ohne dass eine Menschenhand den Zustand beeinflusst hat. Das Moor wurde bei unseren Vorfahren als gefährlich angesehen, als geisterhaft bezeichnet und mit Spukgestalten in Verbindung gebracht und gemieden.
Als erstes Relikt in der Mitte des Großen Moores wurde etwa um 1900 ein Jagdpfahl ins Moor geschlagen. Begehen konnte man diese Flächen nur im Winter, wenn der Boden hart genug gefroren war. Der erste Jagdpfahl wurde später durch ein Eisenrohr ersetzt und ist auch heute noch erhalten. Er gilt als geometrischer Messpunkt, von wo aus später die Moorteile den einzelnen Gemeinden zugeschlagen wurden. Heute steht dort zusätzlich ein dicker Eichenpfahl, in den die angrenzenden Gemeindenamen eingeschnitzt sind. Eine Schrifttafel erläutert den Ursprung, und eine Sitzbank lädt zum Verweilen ein. Der erste Jagdpfahl wird im Vereinshaus Campemoor aufbewahrt, ist noch gut erhalten und zeigt zahlreiche Schrotschüsse von Jägern, die sich im Winter bis dort hin vorgewagt hatten.
Am Rande des Moores findet man noch so genannte Putten, die ersten Torfstiche, in denen Schwarztorf als Brennmaterial abgebaut wurde. Die Torfstecher waren begehrte Männer, die diese Arbeit neben einer kleinen Landwirtschaft betrieben. Ich kannte noch einige Männer, die diese harte Arbeit machten, aber die Torfstecherei für Brennmaterial ging nach dem 2. Weltkrieg schnell zu Ende, heute lebt keiner der Torfstecher mehr. Am Rande des Moorlehrpfades an der Straße von Vörden nach Hunteburg findet man auch heute noch solche Torfpütten, die längst mit Blaubeeren und Heidekraut zugewachsen sind.
Mit Gründung der Schweger Moorzentrale, die bis heute unter dem Namen „Hakumag“ bekannt ist, begann um ca. 1900 der erste industrielle Torfabbau. Abgebaut wurde der sogenannte Schwarztorf, der die unterste Schicht des fünf bis sechs Meter starken Moores ausmacht. Dieser Torf wurde damals ausschließlich als Brennmaterial verwendet.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir als Schulkinder nach dem Krieg die abgeernteten Torffelder nach liegengebliebenen Torfresten absuchen durften, um für den Schulofen Brennmaterial zu haben. Beim Abbaggern des Schwarztorfes wurden einige Jahre nach dem Krieg zwei Moorleichen entdeckt, was für uns eine Sensation in der ansonsten nicht so ereignisreichen Zeit war. Diese Moorleichen, zwei Männer im besten Mannesalter, waren in Säcke eingewickelt, und die Moorsäure hatte sie über zwei Jahrtausende gut erhalten.
Neben dem Torfabbau gab es immer wieder Versuche, die Moorflächen landwirtschaftlich zu nutzen. So wagte sich schon 1922 der erste Siedler aufs Moor, um die Flächen zu bewirtschaften. Voraussetzung hierfür war, dass das Moor durch Gräben trockengelegt wurde, das Oberflächenwasser musste abziehen. Auch ein besandeter Weg wurde erstellt, um mit Pferdefuhrwerken die kultivierten Flächen zu erreichen. Die zur Bewirtschaftung vorgesehenen Flächen wurden außerdem mit Tonrohren ausgerüstet. Das sogenannte Dränieren erfolgte im Abstand von ca. 20 m in einer Tiefe von ca. 1,2 m. Der erste Siedler kam aus Ostfriesland und war drei Tage mit Pferd und Wagen unterwegs, um sein erstes Zuhause in der Fremde, eine einfache Hütte für Tier und Mensch zu beziehen. So ging es bis etwa 1938 zügig weiter und ca. 40 Familien hatten eine neue Heimat gefunden, wo sie selbständig ihrem Broterwerb nachgehen konnten. Für diese Menschen eine mühselige Arbeit, aber ein großer Fortschritt in ihrem Leben, da sie bislang meistens als Heuerleute oder Arbeiter tätig gewesen waren. Nach dem Krieg entwickelten sich die Höfe gut, denn landwirtschaftliche Produkte waren begehrt, so dass es aussah, als hätten die Moorpioniere das richtige Fass angesteckt, und ihre Zukunft schien zu aller Zufriedenheit zu verlaufen.
Mit Einsetzen der Industrialisierung änderten sich die Bedingungen. Die Höfe brauchten immer mehr Fläche, um ihre Familien ernähren zu können. Heute sieht es so aus, dass nur noch jede 4. Familie von der Landwirtschaft lebt. Die anderen Betriebe haben die Landwirtschaft aufgegeben, die Flächen wurden von den aktiven Höfen übernommen. Alle, die keine Landwirtschaft mehr betreiben, haben in der näheren Umgebung eine Arbeitsstätte gefunden. Der Zusammenhalt dieser Gemeinschaft, in der Gründerzeit eine Notwendigkeit, hat aber durch den Strukturwandel nicht gelitten, so dass auch heute noch ein sehr aktives Dorfleben besteht.
Auch im industriellen Torfabbau hat schon bald nach dem Krieg ein Wandel stattgefunden. War vorher der Schwarztorf als Brennmaterial der begehrte Rohstoff, so wuchs in den 60er Jahren der Bedarf an Torfdünger für Gartenanlagen sehr schnell an. Als Düngetorf wird sowohl Schwarz- als auch Weißtorf verwendet, und der Bedarf scheint unermesslich zu sein. Heute sind noch drei Torfwerke dabei, vor einigen Jahren waren es sogar fünf, die das Moor von allen Seiten abbauten.
Bei dem gewaltigen Bedarf an Torfdünger muss man sich fragen, wann dieser natürliche Rohstoff verbraucht ist. Alle Randflächen des Großen Moores sind abgebaut, erste Torffelder wurden bereits nach dem Abbau wieder vernässt. Ein Beschluss der Landesregierung verbietet eine Kultivierung als landwirtschaftliche Nutzfläche. Wiedervernässung heißt, dass die Abzugsgräben zugeschüttet werden und die Fläche der Natur zurückgegeben wird. Was die Natur aus dieser „erzwungenen Situation“ macht, wird die Zukunft zeigen.
In der Mitte des Großen Moores liegt die einzige bewohnte Fläche, nämlich Campenoor mit gut 50 ehemals landwirtschaftlichen Siedlungen, von denen noch etwas mehr als zehn Vollerwerbsbetriebe sind. Wie die Aussichten für die Bewohner von Campemoor sind, ist noch nicht ablesbar, da der Niedersächsische Landtag das gesamte Große Moor zur Abtorfung freigegeben hat. Erste Flächen der Siedlung wurden bereits von den Torfwerken aufgekauft und deren Abbau hat schon begonnen. Darüber machen sich viele Moorbewohner Sorgen und versuchen sich vorzustellen, wie es wohl aussieht, wenn man morgens aufwacht und muss in eine abgetorfte Fläche sehen, anstatt ein blühendes Ackerfeld vorzufinden. Eine Petition zur Abwendung des Torfabbaues in der Siedlung an den Niedersächsischen Landtag wurde abschlägig beurteilt. Wir älteren Bewohner werden den restlosen Abbau wohl nicht mehr erleben. Wie es aber in 50 oder mehr Jahren hier aussieht, das steht in den Sternen. Der Mensch ist fähig, das, was in Jahrtausenden entstanden ist - Moor wächst jedes Jahr etwa 1 Millimeter - in gut einhundert Jahren wieder auszulöschen.